Kraftgewinn durch Vorstellungstraining

In der Zeitschrift für Sportpsychologie 12 (1), 11-21 aus dem Hogrefe Verlag, finden wir eine interessante Studie mit dem Titel „Kraftgewinne durch Vorstellung maximaler Muskelkontraktionen“ von Mathias Reiser (Universität Gießen).

Theoretischer Hintergrund:

Bislang gibt es mehrere Studien, die eine Wirksamkeit von Visualisierungstraining im Sport bestätigen. Vor allem innerhalb von „mentalem Techniktraining“ wird die Vorstellung von Bewegungsabläufen zum Erlernen oder Festigen erfolgreich eingesetzt.

Auch der Einfluss von Vorstellungen auf die Komponente Kraft wurde in der jungen Vergangenheit schon häufig Gegenstand von wissenschaftlichen Studien.

– Yue und Cole (1992) fanden eine Verbesserung der isometrischen Maximalkraft (29,8%) durch IMC-Training (imagined maximum contraction).

– Ranganathan, Kuykendall, Siemionow und Yue konnten 2002 entdecken, dass es auch auf die Perspektive ankommt, die die Versuchsperson beim Vorstellungstraining einnimmt. Die vorgestellte Muskelkontraktion in der Ersten-Person-Perspektive war mit deutlich höheren Zugewinnen assoziiert als in der Dritten-Person-Perspektive.

– Die Vorstellung von maximaler Kontraktion bei gleichzeitiger Ausführung von Muskelkraftübungen (sehr niedriger Intensität), führte zu Kraftwachstum von >20%, obwohl die alleinige Ausübung der Kraftübungen keinen leistungssteigernden Effekt hatte (Zijdewind et al., 2003).

– Auch Smith, Collins und Holms (2003) berichten von einer signifikanten Verbesserung von 23,3% beim m. abductor digiti.

– Ebenfalls 2003 finden Toering, Bessem, van der Laan und Diercks einen signifikanten Unterschied bei der Plantarflexion des Sprunggelenks. Der maximale Drehmoment nahm um ca. 20% zu.

– 2004 konnten Ranganathan, Siemionow, Liu, Sahgal und Yue dieses Resultat auch für eine größere Muskelgruppe nachweisen (Zuwachs 13,5% bei Ellenbogenbeuger).

Man versteht den Effekt von IMC-Training als eine Optimierung von zentralen motorischen Programmierungen, welche durch eine Verbesserung der neuromuskulären Aktivierung für die Kraftgewinne verantwortlich sind.

Ranganathan et al. (2002) fand nach einem IMC-Training anhand von EEG-Signalen, dass eine erhöhte zentralnervöse Aktivierung vorhanden ist. Diese spricht dafür, dass ein verbessertes Innervationsverhalten die Kraftsteigerung nach Vorstellungstraining verursacht.

Die vorliegende Studie wollte den Verlauf des Kraftzuwachses innerhalb mehrerer Messzeitpunkte über einen längeren Zeitraum erheben, da bekannt ist, dass neuronale Anpassungen hauptsächlich in frühen Trainingsstadien erfolgen (Sale, 1992). Eine muskuläre Adaptation erfolgt in der Regel erst verzögert.

Aufbau und Methoden der Studie:

Für die 34 sportstudierenden Teilnehmern (8 weiblich/26 männlich), welche alle erste Erfahrungen von Bewegungsabläufen im Bankdrücken hatten, wurde ein vierwöchiges Trainingsprogramm erstellt. Das Alter der VPN lag bei ca. 23,9 Jahren. Sie wurden dazu aufgefordert, innerhalb der drei Monate vor der Untersuchung kein eigenständiges Maximalkrafttraining der oberen Extremität vorzunehmen und während der Studie gar kein zusätzliches Krafttraining auszuüben.

Die Messzeitpunkte wurden folgendermaßen verteilt:
Vortest – nach 8 Tagen – nach 14 Tagen – Endtest

Die 34 Teilnehmer wurden randomisiert in drei Gruppen aufgeteilt:
Maxkraft (n=12) -> tatsächliche maximale isometrische Muskelkontraktion
Mental (n=11) -> vorgestellte maximale isometrische Muskelkontraktion
Kontrolle (n=11) -> nicht trainierende Gruppe

Anhand eines Fragebogens (Movement Imagery Questionnaire) wurde die Fähigkeit erhoben, sich Bewegungen vorzustellen. Alle Personen waren dazu in der Lage, lebhaft und zuverlässig Bewegungsvorstellungen abzurufen.

Versuchsdurchführung:

Die Teilnehmer vollzogen vor jedem Messzeitpunkt ein Aufwärmtraining durch praktizieren der Zielübung (Bankdrücken). Hierbei wurden folgende standardisierte Aufwärmprogramme durchgeführt:

– 2×8 Wiederholungen mit ca. 50% MVC (maximum isometric voluntary contraction force) und
– 2×3 Wiederholungen mit ca. 80% MVC

Innerhalb des Tests wurden jeweils drei fünfsekündige MVCs aufgezeichnet, wobei das Kraftmaximum innerhalb von zwei Sekunden auf das Kraftmaximum steigen sollte und anschließend mit möglichst geringem Kraftnachlass gehalten werden sollte. Zwischen jeder MVC lagen 3 Minuten Pause. Der höchste dieser drei Werte wurde in die Auswertung mit einbezogen (meist war dies der erste Versuch).

Trainingsprogramm:

Sowohl die Gruppe „Maxkraft“ als auch die Gruppe „Mental“ trainierten 4x wöchentlich.

Die Gruppe „Maxkraft“ absolvierte pro Einheit vier Serien a zwei Wiederholungen eines MVCs über jeweils 5 Sekunden. Zwischen jeder Kontraktion lagen 10 Sekunden Pause zwischen den Serien drei Minuten.

Die Gruppe „Mental“ hatte das gleiche Trainingsprogramm, nur dass sie den MVC nicht auslösten, sondern sich nur vorstellten. Dabei sollten die Personen der „Mental“ Gruppe sich diese Kontraktion aus der Innenansicht der Ersten Person so intensiv wie möglich vorstellen. Dabei zählte auch vor allem das kinästhetische Bewegungsgefühl. Um das kinästhetische Gefühl besser nachvollziehen zu können, wurden vorab Knotenpunkte der Bewegung verbalisiert und ritualisiert.

Hieraus entstanden die verbalisierten Knotenpunkte:
„Position“ (Ausgangsposition der Übung einnehmen)
„Go“ (Beginn maximale Kontraktion)
„fünf, vier, drei, zwei, eins“ (Halten der Kontraktion und Einhalten der Kontraktionszeit)

Nach jeder Vorstellungsserie beschrieb jeder Teilnehmer der Grupp „Mental“, wie lebhaft er subjektiv seine Vorstellung einstufen würde auf einer fünfstufigen Skala.

Ergebnisse:

Die Gruppe „Maxkraft“ konnte insgesamt den größten Kraftzuwachs erreichen. Sie steigerten ihre Relativkraft um 14,1%. Die Gruppe „Mental“ hatte auch einen signifikanten Kraftzuwachs zu verzeichnen (5,7%). Der Kraftgewinn der Kontrollgruppe bleibt ohne Bedeutung.

Betrachtet man nur den Zeitraum zwischen ersten und zweiten Messzeitpunkt, so gibt es beim Kraftzuwachs zwischen den Gruppen „Kraft“ und „Mental“ keine nennenswerten Unterschiede. Erst nach dem zweiten Messzeitpunkt erzielt die „Mental“ Gruppe nur noch deutlich geringere Zuwächse, im Gegensatz zu der „Kraft“ Gruppe.

Beachtet man die Signifikanzen, so resultieren daraus folgende evidenzbasierte Aussagen:

Der Kraftzuwachs der Gruppe „Kraft“ wächst zu jedem Messzeitpunkt (8 Tage, 14 Tage und Endmessung) signifikant.

Der Kraftzuwachs der Gruppe „Mental“ wächst nur zum zweiten Messzeitpunkt (8Tage) signifikant, danach ist zwar ein Kraftzuwachs weiterhin vorhanden, wird aber nicht mehr wissenschaftlich bedeutsam.

Der Unterschied zwischen den Gruppen „Mental“ und „Kontrolle“ sind zum zweiten Messpunkt (8 Tage) signifikant. Danach besteht kein wissenschaftlich bedeutsamer Unterschied.

Der Unterschied zwischen den Gruppen „Kraft“ und „Mental“ ist anfangs wissenschaftlich nicht bedeutsam. Erst zum dritten Messzeitpunkt (Endmessung) wird der Unterschied signifikant bedeutsam.

Zusammengefasst gibt es also anfangs kaum Unterschiede, ob man mental oder körperlich trainiert, der Kraftzuwachs steigt gleichermaßen an. Nach wenigen Tagen jedoch fällt der Zuwachs der den mental Trainierenden mäßiger aus und nur der körperlich Trainierende verzeichnet weiter größeren Kraftzuwachs.

Beides ist bedeutsam besser, als gar nicht zu trainieren 😉

Diskussion:

In dieser Studie konnte ein signifikanter Effekt des IMC-Trainings nach der 1. Woche entdeckt werden, der dem der physisch trainierenden Gruppe entsprach. Nach dieser Woche waren nur noch deutlich schwächer Leistungsverbesserungen durch das IMC-Training zu erreichen. Betrachtet man die anfangs genannten Studien, welche Effekte zwischen 20% und 29% vorfanden, so lagen die Verbesserungen von 5,7% aus dieser Studie deutlich darunter.

Betrachtet man diese Unterschiede, so könnte man folgende Erklärung dafür geben. Die Gruppen dieser Studie wurden vorher mit dem Gerät vertraut gemacht und somit könnte ein Lerneffekt innerhalb des Erhebungszeitraumes deutlich geringeren Einfluss auf das Kraftwachstum haben.

Betrachtet man die zeitliche Charakteristik  des Wachstumsverlaufs der „Mental“ Gruppe, so findet man ein für neuronale Anpassung typisches Erscheinungsbild.

Hierbei kommt der Kraftzuwachs durch eine verbesserte neuronale Ansteuerung der Muskulatur. Diese kann durch folgende Punkte Einfluss auf das Kraftwachstum ausüben:

Intramuskuläre Koordination:

  1. Vermehrte Rekrutierung
  2. Verbesserte Synchronisation
  3. Erhöhte Frequenzierung
  4. Reduktion der Antagonistenaktivität
  5. Verringerung bilateraler Kraftdefizite durch besseres Zusammenspiel der beteiligten Muskelgruppen

Lotze et al. (1999) und Porro et al. (1996) zeigten anhand von Kernspintomographie, dass sich die aktivierten Areale im Gehirn überlappen, egal ob physisch oder mental trainiert wurde. Ein Teil der aktivierten Areale ist der motorische Cortex (M1), der sehr ausführungsnah arbeitet.

2002 konnte sogar belegt werden, dass ein unilaterales Krafttraining eine Verbesserung der nicht-beteiligten Seite zeigt. Dieser Effekt wird als Transfer- oder Cross-Effekt bezeichnet. Die motorische Programmierung verbessert sich für beide Seiten und es kommt beidseitig zu einer optimierten neuromuskulären Aktivierung, obwohl nur eine Seite trainiert (Shima, Ishida, Morotome, Sato & Miyaramura).

Betrachtet man nun die Wirksamkeit des IMC-Trainings in Relation zum physischen Krafttraining, so muss man erkennen, dass hier die Möglichkeiten nur für einen kurzen Zeitraum interessant erscheinen. Nun kann man sich die Frage stellen, in welchen Bereichen diese Methodik Sinn ergibt.

Das IMC-Training macht überall da Sinn, wo Effekte erzielt werden sollen, ohne eine hohe Beanspruchung des Bewegungsapparats. Sei es in einer Vorwettkampfphase, im Präventionstraining oder in der orthopädischen und neurologischen Rehabilitation. Betrachtet man beispielsweise, wodurch der Kraftverlust bei Reha-Patienten maßgeblich kommt, so findet man diese anfangs nicht im Verlust von Muskelmasse, sondern hauptsächlich in der schlechteren Aktivierung durch das neuronale System (Deschenes et al., 2002).

Newsom, Knight und Balnave zeigten 2003 in einem Experiment, dass der Kraftverlust bei Immobilisation des Unterarms, durch IMC-Training deutlich verringert werden konnte.

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