Interdisziplinäre Multimodale Schmerztherapie

In der heutigen Zusammenfassung behandeln wir den Artikel: „Chronischer Knieschmerz – Häufigkeit, Ursachen und Behandlungsoptionen“ von Niemier K., Rauscher C., von Korn K. & Mallwitz J., aus der Fachzeitschrift OUP (Orthopädische und Unfallchirurgische Praxis) 2015; 4(6), Deutscher Ärzte-Verlag.

Einleitung:

Knieschmerzen werden sowohl unter Kindern als auch unter Erwachsenen immer häufiger. In Deutschland leiden laut einer Studie aus dem Jahr 2008 ca. 54% der Berufstätigen unter Knieschmerzen. In 5-22% der Fälle führen diese bei einer aufkommenden Arthrose sogar zur Arbeitsunfähigkeit. Die Zahl implantierter Knieendoprothesen wuchs von 2003 bis 2008 um über 50% an. Betrachtet man die Gesamtheit der allgemeinmedizinischen Arztbesuche, so konsultieren 1,4-5% der Patienten den Arzt auf Grund von Knieschmerzen.

Gründe für chronischen Knieschmerz findet man häufig bei Übergewicht, hohem Lebensalter, weiblichem Geschlecht, weiteren Schmerzerkrankungen des Bewegungssystems, schwerer körperlicher Arbeit, kniender Tätigkeit, psychischen Einflussfaktoren der vorherigen Knietraumen. 

Betrachtet man den evolutionären Hintergrund von Schmerz, so gehört Schmerz zu den lebenswichtigen Sinneswahrnehmungen, welche den Körper vor zu hoher Schädigung bewahren. Schmerz kann jedoch auch durch Stress oder Ablenkung unterdrückt werden, sodass die eigentliche Funktion des Schmerzes (Schutzfunktion) ausbleibt. Dauerhafte Schmerzreize, psychische Erkrankungen oder auch destruktive Verhaltensänderungen können auftreten und die Schmerzregulierung negativ beeinflussen. Beachtet man die Einflussfaktoren, welche zu chronifiziertem Schmerz beitragen können, so erkennt man schnell, dass ein interdisziplinärer multimodaler Ansatz Sinn macht. In die Diagnostik des interdisziplinären multimodalen Ansatz lassen sich funktionelle, morphologische und psychosoziale Einflussfaktoren unterscheiden. Bei einer nur eindimensionalen Betrachtungsweise kann eine therapeutische Behandlung zu Fehlbewertung und somit zu ausbleibendem Therapieerfolg führen.

Die Tabelle 1 zeigt Gründe und Beispiele für die Entstehung chronischer Schmerzsyndrome:

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Funktionelle Anatomie:

Die Hauptaufgaben des Bewegungssystems des Knies ist die aufrechte Haltung, Beweglichkeit und die Fortbewegung. Die Aufgaben werden durch ausreichende Stabilität und Beweglichkeit der passiven und aktiven Strukturen gewährleistet.

Häufig führt gerade eine funktionelle Überbelastung auf Grund von zu wenig Stabilität durch die aktiven Strukturen, zu Kniebeschwerden. Aber auch die neurogene Steuerung nimmt eine sehr wichtige Position in der Haltung des Bewegungssystems ein, sodass sie eine große Angriffsfläche für Knieschmerzen bildet. Folgen einer Störung der neurogenen Steuerung sind Fehlbelastungen und muskuläre Dysbalancen, welche als Mitursache für eine Chronifizierung der Knieschmerzen verantwortlich sein kann.

Weiter Gründe, die zu Knieschmerzen führen können sind beispielsweise Funktionseinschränkungen wie die Blockierung des Fibulaköpfchens. Störungen der Triggerpunkte können Knieschmerzen auslösen (siehe Tabelle 2) und auch Ausstrahlungsschmerzen aus dem Wirbelsäulensegment L4 sowie dem Hüftgelenk können Knieschmerzen verursachen.

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Multimodale Interdisziplinäre Komplexbehandlung:

Dieses Konzept behandelt drei wichtige Ansatzpunkte von chronischen Knieschmerzen. Zum Einen wird der individuelle Umgang des Patienten mit dem Thema Schmerz besprochen, des Weiteren geht es darum aktive Verhaltensmuster zu steigern und negatives Kompensationsverhalten zu minimieren.

Zum negativen Kompensationsverhalten gehören beispielsweise das Einnehmen von Schonhaltungen, Hinkmechanismen, Ängste vor Bewegung sowie die Tendenz sich selbst zu über- oder unterfordern. Dieses Verhalten kann physisch zu einem Abbau der Muskulatur, muskuläre Dysbalancen, Verschlechterung Stabilisation sowie zu kardiopulmonalen/muskulären Konditionseinbußen führen. Auch psychosoziale Probleme können auftreten. Beispielsweise ein Verlust in das eigene Körpervertrauen, Angst vor spezifischen Haltungen, Bewegungen oder Tätigkeiten. Auf syndromaler Ebene kann es zu depressiven Symptomen, Antriebslosigkeit und negativem Stress kommen. Die Folgen solcher Beschwerden führen auch häufig zu einem sozialen Rückzug, was die Lebensqualität der erkrankten Person einschränkt und zur weiteren Chronifizierung des Problems beiträgt.

Darauf begründet empfiehlt sich das biosoziale Modell nach Engel, in welchem sowohl pathophysiologische Vorgänge, als auch kognitive, affektive und sozio-kulturelle Aspekte Berücksichtigung finden. Die Grundlagen des vorliegenden Konzepts greifen auf den „ESCAPE (Enabling Self-management and Coping with Arthritic knee Pain through Exercise)“, den „Evidence Based Clinical Practice Guidelines“ und der in Hamburg entwickelten „Nationalen Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz“ zurück. Der Kernpunkt der Therapie liegt in der Zusammenarbeit von Ärzten, Psychologen und Physiotherapeuten mit dem Ziel einer ressourcenorientierten Wiederherstellung der objektiven und subjektiven Funktionsfähigkeiten, einer Verbesserung der Kontrollfähigkeiten und einer Steigerung des Kompetenzgefühls des Patienten. Eine Art „Hilfe zur Selbsthilfe“ nach der der Patient gelernt hat selbst seinem Schmerz entgegenzuwirken. Im Idealfall verfügt er nach der Therapie über eigene Problemlöseansätze und Langzeitstrategien um seine Ressourcen optimal einzusetzen.

Hierzu ist es wichtig, dass mit dem Patienten zusammen realistische Ziele erarbeitet werden, welche in überprüfbare Zwischenziele der Therapie geteilt werden können. Da innerhalb dieses Konzepts nicht zu Reduktion des Schmerzes, sondern vielmehr der Umgang damit im Vordergrund stehen, wird die Steuerung der Therapie nicht anhand von Schmerzäußerungen, sondern anhand vom subjektiven Anstrengungsempfinden des Patienten vorgenommen. Diese wird mit Hilfe einer BORG-Skala erhoben. Die Therapiemotivation ist in diesem Konzept von zentraler Bedeutung. Nur ein Patient, der eine aktive Verhaltensänderung anstrebt, kann von einen langfristigen Erfolg durch die multimodale Schmerztherapie profitieren. Zu Beginn der Therapie wird der Patient durch ein multimodales interdisziplinäres Assessment von Arzt, Psychologen und Physiotherapeuten eingeschätzt und eingeordnet. Der Arzt ist verantwortlich für die Anamnese, eine ausgiebige körperliche Untersuchung (neuroorthopädisch & funktionell) sowie für die Bewertung von Vorbefunden, Vorbehandlungen und aktuellen Behandlungen. Der Psychologe diagnostiziert, die auslösenden oder aufrechterhaltenden Faktoren des Schmerzerlebens. Außerdem schätzt er ein, ob eine spezifische psychologische Behandlung für den Patienten sinnvoll erscheint. Diagnostiziert der Psychologe das Vorliegen von komorbiden psychischen Störungsbildern, so ist eine erfolgreiche Behandlung innerhalb dieses Konzepts unrealistisch und eine Psychotherapie erscheint angemessener. Der Physiotherapeut betrachten die alltäglichen Aktivitäten des Patienten und stellt deren Belastung in Hinblick auf die Erkrankung in Relation. Es wird nach Auffälligkeiten auf artikulärer, muskulärer und neuraler Ebene untersucht, welche anschließend in das Therapieprogramm aufgenommen werden. Die Diagnostik des Physiotherapeuten wird unterstützt durch den „Deutschen Schmerzfragebogen“, den AFPT (Aggregated Functional Performance Test) oder den „6-Minuten-Gehtest“. Provokationstest sind auf Grund der Schmerzchronifizierung in ihrer Interpretation mit erhöhter Vorsicht zu bewerten. Alle Befunde werden in einer Teambesprechung zu einem funktionellen, strukturellen und psychosozialen Befund zusammengetragen und nach Relevanz für das Schmerzgeschehen eingeordnet. 

Multimodale Interdisziplinäre Therapie:

Innerhalb der Therapie durchlaufen die Patienten ein 4-wöchiges Programm, welches in Kleingruppen zu maximal 8 Personen organisiert wird. Diese Kleingruppen dienen dem Austausch zwischen den Patienten, außerdem können Situationen differenzierter betrachtet werden, sozialer Rückzug wird vorgebeugt und Leiden können geteilt werden.

Mehrmals in der Woche treffen sich die behandelnden Berufsgruppen und tauschen sich über den aktuellen Stand der Patienten aus.

Zwei mal wöchentlich gibt es feste Zeiten, in denen der Arzt sogenannte Basisinformationen weitergibt. Themen sind:

–       Zentrale Schmerzverarbeitungsmechanismen

–       Anatomie und muskuläre Ansteuerungsmechanismen des Kniegelenks

–       Operative und konservative Therapieverfahren und deren Evidenz

–       Bildgebung und die Relevanz der Befunde

–       Sozialmedizin

In einer wöchentlichen Visite durch den Arzt, werden die Therapieziele und die Teilnahme des Patienten an den Veranstaltungen thematisiert. Im Sinne einer guten Patienten-Arzt-Beziehung ist es wichtig, dass der Arzt jederzeit zur Verfügung steht, wenn es zu unplanmäßigem Bedarf des Patienten kommt.

Die Psychologen übernehmen die Themen

–       Schmerztherapie (2x wöchentlich 90min)

–       Entspannungstherapie (2x wöchentlich 30-45min)

–       Optionale Psychotherapie (6x wöchentlich zwischen 30 & 90min)

Therapiert wird nach den Prinzipien der kognitiven Verhaltenstherapie (vor allem durch kognitive Umstrukturierung). Des Weiteren wird besprochen, ob eine erweiterte ambulante Psychotherapie für den Patienten hilfreich wäre. Psychosoziale Belastungsfaktoren werden besprochen und die Schmerzbewältigung und Schmerzdefokussierung thematisiert. Ergänzt werden diese Themen durch Entspannungstherapien (PME) und positive Aufmerksamkeitslenkung.

Die physiotherapeutische Arbeit wird durch medizinische Trainingstherapie (MTT) gesteuert und richtet sich nicht nach dem Schmerz, sondern nach der erbringbaren Leistung des Patienten. Ziel ist die Funktionsverbesserung, sowie Stabilität und Belastbarkeit. Würde man schmerzabhängig arbeiten, so könnte die Schmerzgrenze unter der Reizschwelle für adäquate Trainingsreize liegen. Häufig liegen bei Kniebeschwerden eine Schwäche der Glutealmuskulatur und des M. quadriceps vastus medialis vor. Auf Grund der oft langen Schonungsphasen, welche durch die Schmerzpatienten eingenommen werden, sind diese meist kardiopulmonal und muskulär in ihrer Ausdauerleistungsfähigkeit eingeschränkt.

Sobald diese wichtigen Defizite aufgearbeitet sind, werden Maßnahmen getroffen, um berufsspezifische oder private Alltagssituationen in Hinblick auf Belastung und Abläufe vorzubereiten. Hierbei liegt ein großer Fokus auf einer stufenweise Erhöhung der Belastung und somit einer Reduzierung der Bewegungsangst.

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Die besondere Herausforderung an das Behandlungsteam besteht darin, die individuellen Defizite und Ressourcen der Patienten zu erkennen und für die Therapie zu nutzen.

Ein anschließender Rückblick ist notwendig um die gesetzten Ziele zu überprüfe und neue Ziele für die Zukunft festzulegen.

Den kompletten Artikel findet ihr hier:

https://www.online-oup.de/media/article/2015/06/9BA4336C-B6DB-45F4-8E1C-B028E95E20B3/9BA4336CB6DB45F48E1CB028E95E20B3_niemier_1_original.pdf